IL TEOREMA DI PASOLINI von Giorgio Battistelli

von Thomas Kellner

IL TEOREMA DI PASOLINI
Libretto & Musik: Giorgio Battistelli
Frei nach dem Film und Roman von Pier Paolo Pasolini

Inszenierung: Dead Centre

Musikalische Leitung: Daniel Cohen 

Bühne, Kostüme: Nina Wetzel / Video: Sébastien Dupouey / Licht: Stephen Dodd / Klangdesigner: Benjamin Schultz / Dramaturgie: Jörg Königsdorf

Lucia: Ángeles Blancas Gulin / Lucia (Schauspielerin): Paula D. Koch / Paolo: Davide Damiani / Paolo (Schauspieler): Christoph Schlemmer / Pietro: Andrei Danilov / Pietro (Schauspieler): Eric Naumann / Odetta: Meechot Marrero / Odetta (Schauspielerin): Nelida Martinez / Emilia: Monica Bacelli / Emilia (Schauspielerin): Doris Gruner / Ospite: Nikolay Borchev / Orchester der Deutschen Oper Berlin 

Uraufführung am 9. Juni 2023 in der Deutschen Oper Berlin

Die Uraufführung von Il Teorema di Pasolini war Teil der zahlreichen Veranstaltungen rund um Pasolinis 100. Geburtstag im März 2022. Die allgegenwärtige Präsenz Pasolinis in den letzten Jahren ist allgemein eine interessante Chance – ich finde es wichtig uns in unserer Zeit mit diesem Enfant Terrible auseinanderzusetzen. Im Kontext von Diskussionen über effizienten politischen Aktivismus und wie Kunst dabei mitwirken könnte, bietet uns Pasolini eine besondere Provokateur-Figur, die nicht konfrontativ wie zum Beispiel ein Rainer Werner Fassbinder war. Die Relevanz dieser Figur ist sehr intelligent als Mittelpunkt und Drehpunkt dieser neuen Oper von Giorgio Battistelli von dem Regieteam Dead Centre inszeniert.

Zuerst war ich skeptisch, ob die Oper in Ort und Form einer solchen Auseinandersetzung genug Tiefe bieten kann, aber die Vorstellung glänzt durch ihre spannende Erzählweise, die das Pasolini-Material, die Roman- und Filmvorlage gleichzeitig treffend darstellt, aber eben auch mit einer neuen Ebene kommentiert, was vor allem die Vielschichtigkeit des Mediums Oper ermöglicht. Die filmische Sprache der Inszenierung ist sehr stark im Bühnenbild verankert, das aus sich ständig wandelnden Guckkästen besteht, die horizontal und vertikal angeordnet sind – manchmal mit projiziertem Szenenbild als Hintergrund auf der Innenwand (Wohnzimmer, Garten, rasante Autofahrt…), manchmal live gefilmte Szenen und Nahaufnahmen abbildend. Bei Szenenwechseln, zum Beispiel von Salon zu Garten, bewegen sich die Kästen, mit ihnen die Protagonisten, es folgt ein neuer Szenenauftritt, wobei die Hintergrundprojektionen oft etwas hinterherhinken und somit der Eindruck entsteht das Bild muss erst im Auge oder Gehirn des Betrachters geformt werden, wie beim Überlagerungseffekt einer Kinofilmprojektion. Böse Zungen könnten diese Verzögerung als technischen Fehler des Bühnenapparats verstehen, ich möchte aber im Glauben bleiben, dass dieser wunderbare Effekt vom künstlerischen Team gewollt war, um an den Ursprung von Teorema im Kino zu erinnern.

© Eike Walkenhorst

Dieser Bühnenapparat bebildert nun in einer Art bourgeoisem Puppenhaus die bekannte Geschichte der zerfallenden, großbürgerlichen Familie, die von stummen Schauspielern lautlos gespielt wird. Die gesungene Sprache der Handlung kommt von den Sängern, die in einer vorgelagerten Bühnensituation, als Wissenschaftler kostümiert, von außen in die Baukastenmaschinerie blicken, wie in einer Art Terrarium, nur durch eine Gaze getrennt. Auf die wiederum verschiedenen Präzisierungen schriftlich projiziert werden, Auszüge aus dem Roman, Luft und Raumtemperatur, Zeitangaben oder weitere live gefilmte Szenen. Alle Sänger haben eine Doppelrolle als Familienmitglied und Labormitarbeiter, die die Versuchsanordnung kommentieren, Daten erheben und auswerten, etc. Nur der Gast bewegt sich singend in den Familienszenen. Das Experiment geht schief, wenn der Gast wieder verschwindet: dann legen die Wissenschaftler-Sänger ihre Laborkittel ab, begegnen ihren Doppelgänger-Schauspielern in einer Art Staffelübergabe und treten in das Haus und werden schließlich zu den vollwertigen Figuren, jetzt ohne Distanz. Das ganze System demontiert sich stufenweise, Bühnenarbeiter nehmen nacheinander das Puppenheim auseinander und die Familie singt sich durch ihre Misere, bis zu der letzten Arie des Vaters, der nackt auf der nackten Bühne endet. Die Idee ist szenisch effizient ausgeführt – auch wenn man manchmal die Musik gerne selbstständiger wahrnehmen möchte als einen weiteren Beitrag in der Bebilderung der bekannten Handlung, und nicht nur als ein Begleiter der Handlung. 

Der Gast, der auch gerne als Messias beschrieben wird, ist diese mysteriöse Figur, die einfach durch ihre strahlende Präsenz und aufmerksame Haltung eine gewisse Qualität an Zwischenmenschlichkeit provoziert (als Verführer, Anreger, Liebhaber), die Sachen ändert und letztendlich ein System durcheinanderbringt – wie Myschkin in Dostojewskis Idiot. Bei Pasolini ist er anders als bei Dostojewski, vielmehr eine offene Frage, was diese politische-sakrale Kraft eigentlich ist oder sein könnte, und diese Inszenierung der Deutschen Oper findet in gewisser Weise eine Antwort auf diese offene Frage: der Gast ist bei Dead Centre kein hübscher junger Mann, sondern wird durch sein Alter und sein Kostümbild zu Pasolini selbst. Die Lösung ist platt, funktioniert aber. Die Rolle dieser Art linksgerichteter Kultur die Pasolini verkörpert, als gesellschaftlich ändernde Kraft zu begreifen, ist die Frage die Pasolinis künstlerisches Vermächtnis uns zu stellen zwingt. Und im Original wie auch in dieser Inszenierung bleibt die Antwort offen, insofern als jedes Familienmitglied anders auf den Pasolini-Messias reagiert, und es wird nicht eindeutig behauptet, dass etwas damit erreicht wurde, oder sich etwas verbessert hat. Was vielleicht zum Vorschein kam, war die nackte Wahrheit, also kein unwesentliches Ergebnis. Dennoch bleibt die globale Wirkung des Abends hoffnungslos, wenn nicht sogar zynisch. Der einzige interessante Punkt, den ich in der Konstellation sehe, ist, dass man die Welt auch ohne große Ideen und Gesten, also großer Kunst ändern kann, manchmal kann die Präsenz eines Einzelnen reichen, der Sachen anders macht als andere, um Denkprozesse in Gang zu setzen und eine Veränderung hervorzurufen. 

Auf der Meta-Ebene des Stücks stellt die Pasolini-Messias-Lösung auch die Position des Zuschauers in Frage. Theoretisch ist unsere Position wie die der WissenschaftlerInnen, wir können die Situation nur so lange von außen beobachten und kommentieren, bis uns die Wirklichkeit einholt und wir ihr nicht mehr entkommen können, dass wir zu den Protagonisten dieser Geschichte werden oder schon immer waren – dass wir, die Gutbürgerlichen im Zuschauerraum der Deutschen Oper sind, die Bourgeoisie im Puppenhaus, und wir alle irgendwie durch Pasolinis Kunst verändert werden. In einer Gesellschaft ist niemand nur Zuschauer.

© Eike Walkenhorst

Insofern möchte ich auch die Relevanz dieser Theaterkritik in Frage stelle. Die Erfahrung einer Inszenierung ist viel mehrdimensionaler als eine einzelne Kritik. Natürlich ist es für mich interessant darüber nachzudenken, was meiner Meinung nach gut funktionierte hat etc., um auch meine eigene künstlerische Praxis zu bereichern. Aber wie die fünf Charaktere bei Teorema, die fünf unterschiedliche Sichtweisen und Reaktionen auf den Messias-Gast haben, möchte ich lieber mit fünf Zuschauern über die Vorstellung reden, was Neues aus einer Diskussion zwischen uns entstehen lassen, als meine einzelne Perspektive ausführlich zu beschreiben. Häufig fühlen sich Zuschauer nicht legitim Theaterkritik gegenüber ihre eigene Meinung zu äußern, es besteht nach wie vor das Vorurteil dass es der Theaterkritiker besser weiß, somit wird der Raum für diese Pasolinischen fünf unterschiedliche Reaktionen nicht geschaffen. Für mich ist es auch als Zuschauer nicht immer von Vorteil selbst Theatermacher zu sein: immer zu verstehen, wie eine Vorstellung technisch gemacht wurde, ständig die Grammatik zusätzlich zu dem Text mitzulesen, kann auch die Wirkung nehmen und meine sinnliche Erfahrung einschränken. In zahlreichen Zuschauer-Workshops, die ich anleite, fand ich oft, dass die interessantesten Beiträge von Leuten kamen, die keine Ahnung hatten, wie das Stück hergestellt wurde. Natürlich ist es wertvoll ein Werk lesen zu können genau wie es die Autoren und Regieteams gemeint haben, um den kreativen Ablauf und die Referenzen zu verstehen, dennoch ist das nicht die Perspektive der meisten Zuschauer. Diese Vielfältigkeit an möglichen Reaktionen sollten wahrgenommen werden, weil sie Teil der Kunsterfahrung sind, und auch weil man von einem frischen Blick auf altbekannte Standpunkte manchmal mehr lernen kann als umgedreht. Vielleicht liegt der bessere Gebrauch meiner Fähigkeit zur Theaterkritik als Theatermacher nicht in der Beurteilung und Einschätzung der Arbeit von Kollegen oder der Analysen anderer Wahrnehmungen, sondern im Schaffen von Bedingungen, die die Mehrdeutigkeit der künstlerischen Erfahrungen zulassen, diskutieren und im Theater, wie auch gesellschaftlich verbreiten.

Vielleicht will uns Il Teorema di Pasolini gerade das sagen: dass es so viele unterschiedliche Reaktionen geben muss, die nur im Gesamten als Mosaik revolutionär sind und wirken können; und dass die Zuschauer-Mitläufer arm dran sind, genau weil sie das Theorem so gut verstanden haben – und nicht umgekehrt.

Thomas Kellner (DE) ist mehrsprachiger Schauspieler, Performer und Kulturakteur in Berlin und Paris. Seit 2016 unternimmt er regelmäßig Zuschauer-Workshops im Festival von Avignon, dem Berliner Theatertreffen und dem Performing Arts Festival Berlin.

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